Von Knallfröschen und Feuerteufeln, Teil 1

Es fing eigentlich ganz nett an. Wir wurden total gut aufgenommen in die Straßengemeinschaft und waren bei jeder Feier dabei. Sogar von den nachbarschaftlichen und traditionell nach Geschlechtern getrennten Geburtstagskaffeekränzchen wurden wir ein Teil. Es gab immer mal hier und dort ein Bierchen auf der Straße und einen kleinen Klönschnack. Und das obwohl von Anfang an klar war, dass wir hier die „Ökos“ sind und somit eigentlich zu den Außerirdischen gehören.

Denn so unterschiedlich wir auch alle sein mögen: Es ist doch normal, verschieden zu sein. Man muss ja mit den Nachbarn nicht immer einer Meinung sein und auch nicht total dicke, aber eine friedliche Koexistenz sollte doch immer funktionieren. Klammert man die anstrengenden Themen halt einfach aus. Schwamm drüber. Oder Schnaps, noch besser.

Das ging eine ganze Weile gut. Denn das Hauptkonfliktthema hat sich Zeit gelassen, bis es an die Tür geklopft hat: Silvester. Hier in der Straße wohnen ein paar regelrechte Feuerteufel, das wurde schnell klar. Durch Corona und das damit einhergehende Feuerwerksverbot war das Ganze erst 2022 präsent. Diplomatisch und behutsam haben wir frühzeitig bei jeder sich bietenden Gelegenheit versucht, die Nachbarn dafür zu sensibilisieren, dass Feuerwerk vielleicht nicht für alle schön ist. Zum Beispiel nicht für Pferde. Wir haben uns bei dem Spagat, die Nachbarn nicht zu verprellen und dennoch für das Wohl unserer Schützlinge zu sorgen, bald ein Bein ausgerenkt. Ein diplomatischer Staatsakt. Das letzte Gespräch hat bei Glühwein und Bierchen am Heiligen Abend 2022 stattgefunden. Wir haben mal wieder unsere Sorgen und Ängste mitgeteilt und um Rücksichtnahme gebeten.

Die Antwort war eine Rakete.

Halten wir hier einmal kurz inne und schauen ein bisschen genauer auf diese Szene. Eine Rakete am Heiligen Abend. Meine Schwägerin pflegt in solchen Fällen immer zu sagen: Finde den Fehler! Wie in diesen Suchbildern auf der letzten Seite einer Fernsehzeitschrift, wo man Kreuzchen machen muss. Fehler gefunden? Genau: Das Böllern ist nur an Silvester und am Neujahrstag erlaubt. Und das ist nicht der einzige Fehler in unserem Bild: auch der Verkauf geht erst kurz vor dem Jahreswechsel los. Diese Rakete hätte also nicht nur nicht gezündet werden dürfen, sie dürfte auch überhaupt gar nicht da gewesen sein.

Aber da flog also eine Rakete. An Silvester rechnet man mit dem Terror, aber nicht an Weihnachten. Ich stand gerade ahnungslos zwischen den Pferden und habe sie gefüttert, als ich das Zischen hörte. Zum Glück wusste ich eine Millisekunde früher, was das zu bedeuten hat und war sprungbereit, bevor die Pferde es waren. Sonst hätte ich Weihnachten wahrscheinlich im Krankenhaus verbracht. Als Volker rüber gegangen ist, um die Truppe dort zur Rede zu stellen, bekam er nur die Antwort: „Daran müssen die Gäule sich gewöhnen.“

Spätestens jetzt war für uns klar: Auf Verständnis und Rücksichtnahme brauchen wir hier nicht zu hoffen.

Doch zum Glück gibt es ja Gesetze! Zum Beispiel das Sprengstoffgesetz. Wenn also die Bitte um Rücksichtnahme nicht ausreicht, dann müssen wir eben darauf hinweisen, dass Feuerwerk in unmittelbarer Nähe von besonders brandgefährlichen Gebäuden wie Reet- und Fachwerkhäusern oder Heulagern verboten ist. In Niedersachsen bedeutet „unmittelbare Nähe“ in der Regel 200 Meter. Also haben wir kleine Briefe verfasst, in denen wir auf das Gesetz und die Abstandsregeln hingewiesen haben. Und wieder haben wir außerdem unsere Sorgen und Ängste geschildert und darum gebeten, die Abstandsregeln einzuhalten, zum Wohle unserer Pferde und aus Brandschutzgründen. Nicht mehr- aber eben auch nicht weniger.

Warum wir uns überhaupt Sorgen gemacht haben? Pferde sind Fluchttiere. Sie verfügen über sehr sensible Sinnesorgane und nehmen die Knall- Zisch- und Lichteffekte sehr intensiv wahr. Dazu kommt noch der Brandgeruch, der sofort das limbische System aktiviert und das Pferd in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Weil Silvester ein sehr seltenes und plötzlich auftretendes Ereignis ist, haben die Pferde keine Möglichkeit, sich allmählich an das Geschehen zu gewöhnen, sondern sie werden alljährlich in voller Intensität mit dieser Reizüberflutung konfrontiert. Aus dem daraus entstehenden akuten Angstzustand entwickelt sich nicht selten eine krankhafte Phobie oder sogar ein Trauma. Viele Pferde zeigen noch lange nach der Silvesternacht Verhaltensauffälligkeiten und sind zum Beispiel schreckhafter als sonst. Wie stark ein Pferd auf ein Feuerwerk reagiert, hängt ganz entschieden von dessen Entfernung ab. Die Knallerei ist für die meisten Tiere schlimm, aber während man Hunde oder Katzen noch im sicheren Haus unterbringen kann, ist das bei Pferden leider nicht der Fall. Insbesondere Offenstallpferde sind der Böllerei oft schutzlos ausgeliefert. Jedes Jahr geraten unzählige Pferde in Panik, verletzen sich oder andere, verursachen Unfälle, erleiden eine Kolik oder sterben gar an einem Herzinfarkt. Und jedes Jahr bringen sich viele Pferdemenschen in Gefahr, weil sie ihren Tieren in der Silvesternacht beistehen, um das Schlimmste zu verhindern.

Seit vielen Jahren verbringe ich den Jahreswechsel im Stall. River ist eigentlich relativ cool mit Feuerwerk. Schließlich hat er einige Jahre auf der Kinder- und Jugendfarm gelebt und dort war immer tüchtig was los. Aber wie stark er reagiert, hängt auch immer von der Herde ab, die ihn umgibt. Und natürlich von der Entfernung des Feuerwerks. Hier war nun klar: Die Feuerteufel wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft. Und sie schießen nicht nur ein paar Raketen in die Luft, sondern veranstalten jedes Jahr ein regelrechtes Inferno. Das wussten wir aus Erzählungen. Rivers „Herde“ bestand zum Jahreswechsel 22/23 nur noch aus einem einzigen Pferd. Aber der Hauptgrund für die Sorgen war, dass er Anfang Dezember eine Zahn- OP hatte, von der er sich wochenlang nicht erholt hat. Er hat kaum gefressen und es ging ihm insgesamt nicht gut. In diesem ohnehin schon traumatisierten Zustand in eine Silvesternacht zu gehen, war keine gute Voraussetzung. Da er nicht gut gefressen hat, habe ich auch die pflanzlichen Beruhigungsmittel nicht in ihn hineinbekommen, die ich normalerweise vier Wochen lang vor Silvester dazu füttere. Eine wirklich verfahrene Situation.

Am Nachmittag vor Silvester hatte Volker dann noch die Gelegenheit mit einem Nachbarn ein Bierchen zu trinken, von dem wir wussten, dass mindestens eine der im Haushalt lebenden Personen sehr gerne und auch viel böllert. Ihm wurde zugesichert, dass diese Person auf jeden Fall weit genug weggehen würde. Geht doch.

Denkste. Am Silvesterabend flog gegen 17 Uhr die erste Rakete bei besagtem Nachbarn in nur 40 Meter Entfernung in die Luft und explodierte aufgrund der Windrichtung und- stärke direkt neben den Pferden. Das Resultat könnt ihr euch vorstellen. Beide Pferde trugen zu diesem Zeitpunkt schon Ohrstöpsel und dennoch haben sie wegen der unmittelbaren Nähe total heftig reagiert. Das fing ja gut an. Natürlich ist Volker dann rübergegangen und hat an die Vereinbarung erinnern wollen. Aber das Gespräch ist leider nicht so gut verlaufen.

Deshalb bin ich selber auch noch mal hinüber gegangen und habe versucht, auf der zwischenmenschlichen Ebene einen Zugang zu finden. Habe dargestellt, wie gestresst die Pferde jetzt schon sind, dass sie Durchfall haben und nichts essen und dass ich mir große Sorgen deswegen mache. Ein Feuerwerk in unmittelbarer Nähe ist einfach eine Zumutung für Pferde und kann gefährlich und gesundheitsschädigend für sie sein. Und das kann doch keiner wollen! Sowohl sie als auch er zeigten sich nach langem Reden verständnisvoll und versprachen, nach hinten in den Garten zu gehen. Das war zwar immer noch viel zu nah und eigentlich war uns etwas anderes versprochen worden, aber immerhin. Halbwegs beruhigt bin ich zurück nach Hause gegangen.

Auch für uns war an essen und entspannen nicht zu denken. Ich war nonstop im Stall um da zu sein, falls etwas ist. Denn es ist enorm wichtig, jede Panik gleich im Keim zu ersticken, damit nicht zuviel Adrenalin in den Blutkreislauf gelangt. Ist so ein Pferd nämlich einmal „hochgeschossen“ kommt es so schnell nicht wieder runter.

Um kurz vor 12 haben wir die beiden dann ans Halfter genommen, damit sie nicht unkontrolliert herumlaufen. Und dann ging es los. Ich dachte, ich gucke nicht richtig als mir klar wurde, dass die gesamte Familie, die mir eben noch zugesagt hatte, weiter weg zu gehen, nun doch direkt vor dem Haus stand und eifrig eine Batterie nach der anderen gezündet hat. Wir hatten in dieser Nacht Windböen von über 55 Kilometern pro Stunde und entsprechend lang und flach waren die Flugbahnen. Obwohl wir ganz nach hinten auf den Paddock gegangen sind, explodierten die Sprengköpfe in nur wenigen Metern Entfernung direkt neben uns. Die armen Pferde. Bei den anderen Nachbarn war es zunächst ruhig und optimistisch, wie ich bin, dachte ich: „Zum Glück sind wenigstens diese Menschen vernünftig.“ Doch ich hatte mich zu früh gefreut. Dort ging es schließlich auch los. Und wieder trug der Wind die Raketen weit bis zu uns. Teilweise landeten glühende Stückchen nur knapp neben unserem Heulager.

Wir wurden von zwei Seiten beschossen und waren mit den Pferden mittendrin. Die Jungs haben das super gemacht und sich voller Vertrauen von uns durch dieses Inferno führen lassen. Sichtlich gestresst und ängstlich, aber die Ohrstöpsel schienen zumindest die Spitzen der Knalleffekte auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Auch die Fliegenmasken machten einen guten Job und brachen die Lichtreflexe ein wenig. Ich war unglaublich froh darüber, dass sie sich so wacker schlugen. Was für tolle Tiere. Dennoch: genau deswegen haben sie es einfach nicht verdient, so behandelt zu werden.

Eine Stunde lang dauerte das Feuerwerk der Nachbarn, die uns versprochen hatten weiter weg zu gehen. Eine Stunde lang mussten wir unsere Pferde im Kreis führen. Irgendwann war es dann endlich still. River zeigte mir, dass er sich wälzen möchte. Ich freute mich sehr über diese Geste, denn das Wälzen ist wichtig für den Abbau von Stress und es bedeutet „Entwarnung“. Er legte sich auf den Boden und Noconi tat es ihm nach. Genüsslich schubbelten sich die beiden die Anspannung der letzten Stunden vom Buckel. Dann endlich konnten sie auch wieder etwas essen. Nach vorne zum Stall haben sich die Zwei aber nicht getraut, sie wollten lieber hinten bleiben, wo sie alles besser überblicken können. Also habe ich dort große Heuhaufen verteilt und Wasser bereit gestellt. Geschafft.

Endlich konnten auch wir eine Flasche Sekt öffnen. Doch nach Feiern war uns nicht zumute. Schließlich hatten die Nachbarn uns gerade unmissverständlich mitgeteilt, dass ihnen unser Wohl und auch das unserer Tiere scheiß egal ist. So ein Verhalten ist mir völlig fremd. Ich kann es einfach nicht nachvollziehen. Wenn mich jemand darum bittet, Rücksicht zu nehmen, weil mein Verhalten sonst einem anderen Lebewesen Schaden zufügen könnte, dann wäre für mich klar, dass ich auf diese Bitte eingehe. Ich würde niemandem schaden wollen! Mein schlechtes Gewissen würde mich umbringen. Und diese Menschen haben sogar wissentlich so gehandelt, denn wir haben sie im Vorfeld darüber informiert, es ist also noch nicht mal aus Versehen passiert.

Im Klartext heißt das: Der zweifelhafte Spaß Raketen in die Luft zu schießen ist ihnen wichtiger, als das Wohlergehen ihrer Mitgeschöpfe oder das nachbarschaftliche Verhältnis zu uns. Das hat mich echt geschockt und sehr traurig gemacht. In so einer „Gemeinschaft“ möchte ich nicht leben. Ich möchte meinen Mitmenschen vertrauen können, genauso, wie sie mir vertrauen können.

Vollkommen erschöpft sind wir dann irgendwann eingeschlafen und am nächsten Morgen ganz früh zur Farm gefahren, um nach den Pferden dort zu schauen. Vorne an der Straße lag ein riesiger Berg Müll. Weit verstreut vom Wind. Als wir zurückkamen, war der Müll weitestgehend beseitigt. Aber nur vorne an der Straße, unsere Weide lag noch voll. Voll mit giftigen Raketenresten, Plastikteilchen und Papierfetzen. Ich wollte die Pferde aber allmählich rauslassen, es war schließlich schon Mittag und sie mussten sich dringend ein wenig den Stress der Nacht „weggrasen“ und ablaufen. Von den Nachbarn keine Spur. Ist das normal, dass man seinen Müll einfach auf anderen Grundstücken liegen lässt? Noch dazu auf einer Weide, auf der Pferde grasen? Ich finde nicht. Den Rest des Jahres darf man doch auch keinen Müll in der Landschaft verstreuen, warum dann an Silvester?

Ich habe über eine Stunde Zeug eingesammelt, zwei Tüten voll. Und das war längst nicht alles, ich sollte noch bis weit in den Frühling hinein beim Absammeln der Pferdeäpfel immer wieder Raketenreste und ähnliches finden. Diesen Müll habe ich dann zu den Nachbarn gebracht. Ich hatte keine Lust mich darum zu kümmern, dass er fachgerecht entsorgt wird, war ja schließlich nicht unser Sondermüll. Schlimm genug, dass wir ihn einsammeln mussten. Ich habe geklingelt, freundlich ein frohes Neues gewünscht und der verschlafenen Person, die geöffnet hat, die Tüten in die Hand gedrückt.

Als ich über die Straße zurück nach Hause gelaufen bin habe ich dann gesehen, dass die Nachbarn, die uns versprochen hatten Rücksicht zu nehmen, vor ihrem Haus standen. Also bin ich zu ihnen gegangen, habe abermals ein frohes Neues gewünscht und sie gefragt, warum sie denn entgegen aller Versprechen nun doch vor dem Haus geböllert haben. Die Antwort war: „Ganz einfach: wir wären ja zu einem Kompromiss bereit gewesen, aber dann ist Dein Mann rübergekommen. Wir machen hier seit 50 Jahren Feuerwerk und daran wird sich auch nichts ändern.“ Lassen wir das einfach mal unkommentiert so stehen. Ich denke, diese beiden Sätze sprechen für sich.

Die Medien sind mal wieder voll mit schrecklichen Nachrichten. Hunde, die in schierer Panik in der Silvesternacht entlaufen und zu Tode kommen, Kühe, die durch Zäune brechen und sich schwer verletzen, Pferde, die auf Bahngleise und in Autos laufen oder Koliken erleiden. Alles wegen Silvesterraketen. Wegen einer „Tradition“. Einem Brauchtum, das irgendwann einmal entstanden ist, um böse Geister zu vertreiben. Aber ganz offensichtlich werden sie nicht mehr vertrieben, sondern geweckt. Ich bin fassungslos, traurig und wütend, aber auch unglaublich dankbar, dass wir unsere Pferde vor dem Schlimmsten bewahren konnten. Aber zu welchem Preis? Muss das sein?

Nach diesem Ereignis spricht niemand mehr mit uns. Spannend, nicht wahr? Als wären wir diejenigen, die andere mit Raketen beschossen haben. Was haben wir falsch gemacht? Alles, was wir getan haben war, dass wir es gewagt haben, um Rücksichtnahme zu bitten. Jedes Kindergartenkind lernt, dass es zu einem guten Sozialverhalten gehört, dass man auf die Gefühle anderer oder auf Schwächere Rücksicht nimmt. Was hat die Nachbarn veranlasst, so zu handeln? Vielleicht hatten sie das Gefühl, dass wir ihnen etwas wegnehmen wollen. Dabei haben wir nie gesagt, dass sie gar kein Feuerwerk machen dürfen. Wir haben nur um ausreichend Abstand gebeten. Wenn wir uns vorher nicht gut verstanden hätten, wäre das Ganze ja noch anders einzuordnen gewesen. Aber unser Verhältnis war gut! Zumindest oberflächlich. Scheinbar lief nun doch alles darauf hinaus, dass wir „die Neuen“ sind. Solange wir artig mit saufen und uns anpassen ist alles okay. Aber wehe, wir mucken auf. Dann gilt sofort das „Recht der Älteren“. Oder der Alteingesessenen. Herzlich Willkommen auf dem Land?

Empathie, Rücksichtnahme, Verantwortungsgefühl anderen gegenüber- diese menschlichen Grundeigenschaften sollen uns angeblich von den Tieren unterscheiden. Aber wenn es danach geht, sind die meisten Tiere wohl die besseren Menschen.

Die ersten Wochen des neuen Jahres verbringen wir damit, das Silvesterthema aufzuarbeiten. Wir konzentrieren uns darauf, was wir tun können. Schließlich sind wir nicht die einzigen Menschen, die für ein Böllerverbot sind. Wir lesen und recherchieren und sind bald mitten drin im Thema, kennen viele rechtliche Grundlagen und Möglichkeiten. Das macht uns Hoffnung! Es gibt viel zu tun und wir packen es an.

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